Die Schlacht um den Desktop: Eine Geschichte von Freiheit, Verrat und Visionen in der Linux-Welt
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kim88 -
June 7, 2025 at 10:49 PM -
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Der Anfang von allem: Der Lizenzkrieg zwischen KDE und GNOME
Ende der 90er-Jahre war die grafische Oberfläche von Linux noch eine Wüste. Matthias Ettrich, ein deutscher Entwickler, hatte eine Vision: einen konsistenten, modernen und visuell ansprechenden Desktop, der es mit Windows aufnehmen konnte. 1996 startete er das Projekt KDE. Die Idee war grandios, doch sie hatte einen Geburtsfehler, der die Community spalten sollte: KDE basierte auf dem Qt-Toolkit, das damals unter einer proprietären Lizenz stand.
Quelle: Wikipedia - Bild ist unter der GPL: https://de.wikipedia.org/wiki/KDE#/media/Datei:KDE_1.0.png
Für viele in der jungen Open-Source-Bewegung war das ein Verrat an den eigenen Idealen. Ein freier Desktop auf unfreiem Fundament? Undenkbar! Diese ideologische Kluft war die Geburtsstunde von GNOME im Jahr 1997. Angeführt von Miguel de Icaza und Federico Mena, trat GNOME an, um eine vollständig freie Alternative zu schaffen. Sie setzten auf das damals noch junge GTK-Toolkit. Der erste große Glaubenskrieg war entfacht. Es ging nicht nur um Code, sondern um die Seele von Open Source. KDE gegen GNOME war nicht nur ein technischer Wettstreit, sondern ein Kampf der Philosophien.
Quelle: Wikipedia - Bild unter der GPL: https://de.wikipedia.org/wiki/Gnome#/me…ritorio-1.x.png
Der große Knall: Als die Giganten ihre Nutzer verrieten
Jahre vergingen. KDE und GNOME wurden erwachsen, beide auf ihre Weise erfolgreich. Doch dann, Ende der 2000er, erschütterten zwei Beben die Linux-Welt – ausgelöst von ebenjenen Giganten, die sie aufgebaut hatten.
Zuerst kam KDE 4 im Jahr 2008. Angetrieben von grenzenlosem Ehrgeiz, wollten die Entwickler alles neu machen: ein neuer Unterbau, neue Technologien, neue Möglichkeiten. Das Problem? Das Ergebnis war ein digitaler Scherbenhaufen. KDE 4 wurde viel zu früh veröffentlicht. Es war instabil, Funktionen fehlten, und das, was da war, funktionierte oft nicht. Viele treue Nutzer, die KDE für seine Stabilität und Anpassbarkeit liebten, fühlten sich vor den Kopf gestoßen. Sie sprachen von einem "UX-Desaster" und wanderten in Scharen ab.
Drei Jahre später zog GNOME nach – und der Aufschrei war noch lauter. Mit GNOME 3 präsentierten die Entwickler 2011 nicht einfach ein Update, sondern einen radikalen Bruch mit allem, was heilig war. Das klassische Panel, der Desktop als Ordner, sogar die Minimieren-Schaltfläche – alles weg. Stattdessen gab es die "GNOME Shell", einen aufgeräumten, Workflow-orientierten Desktop, der für Touchscreens optimiert schien.
Die Community explodierte. "Arrogant!", schrien die einen, "unbenutzbar!" die anderen. Die Entwickler verteidigten ihre Design-Entscheidungen mit "Usability Studies" und vertraten die Haltung, die Nutzer müssten sich eben anpassen. Für viele war dies der ultimative Vertrauensbruch. Der Desktop, den sie über Jahre lieb gewonnen hatten, wurde ihnen von Entwicklern entrissen, die ihre Bedürfnisse offenbar ignorierten.
Die Rebellen und die Flüchtlinge: Wie aus Wut neue Welten entstanden
Diese Beben hinterlassen eine Landschaft voller "Desktop-Flüchtlinge". Doch aus den Trümmern erwuchsen neue Hoffnungsträger und sichere Häfen.
Wer einfach nur seine Ruhe wollte, landete bei Xfce. Seit 1996 entwickelte sich dieses Projekt langsam, aber stetig. Sein Ziel war nie, das Rad neu zu erfinden, sondern einen leichten, stabilen und ressourcenschonenden Desktop zu bieten. Genau diese konservative Haltung machte es zur Rettung für all jene, denen die Experimente von KDE und GNOME zu viel wurden. Xfces große Kontroverse ist, dass es keine hat – und genau das ist seine Stärke.
Andere wollten nicht nur Zuflucht, sie wollten Rebellion. Als GNOME 3 erschien, weigerten sich viele, ihren geliebten GNOME-2-Desktop aufzugeben. Aus diesem Widerstand wurde MATE geboren, ein direkter Fork, der das klassische Erlebnis am Leben erhalten sollte. Anfangs als rückständiges "Resteverwertungs-Projekt" belächelt, bewies MATE, dass der Bedarf für einen traditionellen Desktop riesig war.
Einen pragmatischeren Weg ging das Team von Linux Mint. Statt das alte System zu konservieren, nahmen sie die moderne Technik von GNOME 3 und bauten darauf eine klassische, vertraute Oberfläche. Das Ergebnis war Cinnamon. Es war der perfekte Kompromiss: moderne Technologie unter der Haube, aber eine Bedienung, die niemanden vor den Kopf stieß. Einst als "unnötiger Fork" kritisiert, ist Cinnamon heute ein eigenständiges und äußerst beliebtes Projekt, das beweist: Man kann innovativ sein, ohne seine Nutzer zu verprellen.
Die Spezialisten: Jenseits des Mainstreams
Neben den großen Dramen blühte stets eine Vielzahl kleinerer Projekte. LXDE und später LXQt verschrieben sich dem radikalen Minimalismus – ideal für alte Rechner. Doch selbst hier kam es zum Bruch: Der Gründer entschied, von GTK auf Qt umzusteigen, was die Community spaltete. Und dann gibt es da noch Enlightenment, ein Projekt, älter als KDE und GNOME. Mit seinen eigenen Bibliotheken und einem Fokus auf Ästhetik und Effizienz war es immer anders, immer ein Kunstwerk – aber vielleicht gerade deshalb nie mehr als ein Nischenprodukt für Enthusiasten.
Ein Frieden, der vom Krieg lebt
Die Geschichte der Linux-Desktops ist kein gerader Weg zum Erfolg. Sie ist ein ständiges Ringen, ein Kreislauf aus Vision, Zerstörung und Wiedergeburt. Jede Kontroverse, jeder "Verrat" an den Nutzern, führte zu neuen Ideen und neuen Projekten.
- KDE ist der ewige Innovator, der für seinen Mut oft bestraft wurde.
- GNOME ist der sture Visionär, der für seine Klarheit einen Bürgerkrieg in Kauf nahm.
- Xfce ist der Fels in der Brandung, der Stabilität über Glanz stellt.
- MATE und Cinnamon sind die Kinder der Rebellion, die beweisen, dass die Community das letzte Wort hat.
So anstrengend diese Fragmentierung manchmal wirkt, sie ist das ultimative Zeichen digitaler Selbstbestimmung. Sie stellt sicher, dass es für jede Philosophie, jeden Geschmack und jeden Frust eine Heimat gibt. Und genau dieser Widerspruch ist es, der den Linux-Desktop so lebendig, so faszinierend und so menschlich macht.
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